Alys Weltbilder

Der Privatgelehrte, Historiker und Publizist Götz Aly hat passend zum neuen Angriff auf den Sozialstaat wieder eine – seine – Interpretation des deutschen Faschismus vorgelegt. Demnach sei dieser, das ist nicht neu, ein wahrhaft sozialer „Volksstaat“ und die Deutschen hätten kollektiv und als wahr gewordene Volksgemeinschaft von der NS-Politik profitiert. Alle seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen gehen zwar in eine andere Richtung, so zeigte beispielsweise der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in seinem Buch „Ökonomie der Zerstörung“, dass die Deutschen, besonders die breite Arbeiterschaft, nie die lange versprochenen „Volksprodukte“ erhielten und die Löhne seit Beginn der Naziherrschaft eingefroren waren. Der Berliner Historiker Marcel Boldorf, Mitherausgeber des „Handbuch Wirtschaft im Nationalsozialismus“, hält über die Sozialpolitik fest: „Das federführende Reichsarbeitsministerium setzte den Abbau von (sozialen) Leistungen fort, der unter den Präsidialregierungen in der Wirtschaftskrise am Ende der Republik begonnen hatte.“ Und der Spezialist für Arbeitsbeziehungen im NS Rüdiger Hachtmann legte dar, dass die Möglichkeit der deutschen Arbeiter, die nominell verbliebenen individuellen Rechte wahrzunehmen, stetig seit Beginn der Nazi-Diktatur schwanden. Michael Schneider arbeitete in dicken Monographien das in Teilen feindliche Verhältnis und präsente Grollen der Arbeiterschaft unterm Hakenkreuz heraus. Ein soeben erschienenen Buch des deutschen Zeithistorikers Peter Longerich, das sich als „Stimmungsgeschichte“ begreift und aufklären will, wie die Deutschen zum NS-Regime standen, präsentiert skeptische, unwillige, auf jeden Fall nicht rundum begeisterte und auf Mord und Totschlag abonnierte, weil davon profitierende Volksgenossen. Dennoch bleibt Aly bei seiner These, die er schon 2005 – interessanterweise zeitgleich zu den Hartz-IV-Angriffen auf den Sozialstaat – ventilierte: „Den Deutschen ging es im Zweiten Weltkrieg besser als je zuvor, sie sahen im nationalen Sozialismus die Lebensform der Zukunft – begründet auf Raub, Rassenkrieg und Mord.“

Einen Leser der Berliner Zeitung provozierte dies derart, dass er einen recht interessanten Brief veröffentlichte. Dieser ist lesenswert.

Aly dürfte mittlerweile in jeder erdenklichen deutschen Publikation zu Wort gekommen sein. Dass er sich beständig unterrezipiert fühlt, ist geschenkt. Als Historiker des NS scheint er sich jedoch auch berufen zu fühlen, den aktuellen Krieg Israels gegen Gaza zu kommentieren und einzuschätzen. In einem SPIEGEL-Interview hat er einen „Übertragungsantisemitismus“ ausgemacht, den seine deutschen Mitbürger pflegen würden. Worin Aly diesen ausmacht? In der Behauptung, die Juden seien auch nicht besser als ihre Opas und Uropas. Interessant. Allerdings ist die Behauptung nirgends bislang aufgestellt worden. Die Behauptung ist eine Behauptung – Alys. Er schiebt noch ein paar gefühlte Wahrheiten über die Revolte von 1968 nach; man ahnt es schon, auch hier waren die Personen, in diesem Fall linke Studenten, von „Übertragungsantisemitismus“ getrieben, wenn sie 1969 den israelischen Botschafter ausbuhten und nicht reden ließen. Was auch sonst? Bei all diesen Projektionen von Projektionen ist es gut, dass man von Aly selbst zumindest eine klare Aussage zum Krieg Israels in Gaza (und das Westjordanland?) erhält: Seit dem 7. Oktober habe man es mit einem „sehr robust geführten israelischen Verteidigungskrieg gegen die Aggressoren Hamas, Hisbollah, Huthi und Iran“ zu tun. Das ist zumindest eine klare Aussage – und eine robuste Behauptung. Das Interview wurde am 22. August 2025 veröffentlicht. Eine Woche später, genau am 1. September 2025 erklärte die International Association of Genocide Scholars (IAGS), eine Vereinigung führende Forscher auf dem Gebiet des Völkermords, dass Israel die Kriterien für einen Völkermord mit seinem Vorgehen in Gaza erfüllen würde. An der robusten Weltsicht Alys wird dies kaum kratzen.